Nachfolgend eine ausschnittsweise Zusammenfassung von Betrachtungen und Ansätzen einer Systemischen Therapie mit Erwachsenen bei bestimmten Störungen (Quelle: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II, Schweitzer / Schlippe):

F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

In einer systemischen bio-psycho-sozialen Betrachtung sind Leben, Bewusstsein und Kommunikation selbstorganisierte Systeme, die zwar strukturell gekoppelt sind, aber zwischen denen es keine kausalen Bezüge gibt. Für Abhängigkeiten heißt das: Es gibt biologisch die Dynamik der ‚Selbstmedikation der Nebenwirkungen der Selbstmedikation‘ durch Toleranzentwicklung, d.h. organische Gegenreaktionen zur Reduktion der Drogenwirkung. Nach einer gewissen Zeit wird das Suchtmittel als fester Bestandteil der Oganismusfunktionen eingebaut – mit der Folge einer physischen Abhängigkeit. Auf der Ebene des Bewusstseins gibt es, je öfter die Erlebens-Sucht-Choreographie durchlaufen wird, immer weniger alternative Optionen. Die Suchthandlung stabilisiert sich auf der psychischen Ebene selbst. Sie besteht, weil sie besteht und sie wird durch das Muster aufrechterhalten, durch das sie selbst gebildet wurde. Auf der Ebene der Kommunikation gibt es keine Sucht/Abhängigkeit an sich. Abhängiges Verhalten ist gleichzeitig ein Netzwerk aus Beobachtungen und Zuschreibungen, die von Beobachtern vorgenommen werden. Verhalten und Reaktionen sind eng sozial verflechtet (z.B. Ko-Abhängigkeit). Störungen durch psychotrope Substanzen sind höchst stabil zwischen den jeweiligen Systemebenen verkettet. Bei einer Entstörung ist insbesondere das Auftragskarussell zu beachten: Der Kostenträger möchte die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit durch vollständige Abstinenz. Der Arbeitgeber möchte schnelle Resultate sehen. Die Angehörigen erwarten oft eine Stabilisierung, ohne dass sich innerhalb des Familiensystems zu viel verändert. Die Mehrzahl der Klienten hält sich selbst nicht für süchtig und strebt keine Abstinenz an. Der Therapeut möchte i.d.R. mit größtmöglicher Ergebnisoffenheit und Neutralität unterschiedliches Konsumverhalten betrachten (Unterschiede einführen). Deshalb ist eine konsequente Klienten-Anliegenorientierung besonderes wichtig.

F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

Ver-rückte Komunikationsformen gedeihen besonders gut in einem Umfeld, in dem sog. weiche Wirklichkeitskonstruktionen vorherrschen. In einem Umfeld, in dem sich die Kommunikationsteilnehmer möglichst wenig festlegen, was sie ausdrücken wollen. In denen Beschreibungen vage und unbestimmt bleiben, Unterschiede und Gegensätze zwischen Bedeutungsinhalten kaum noch erlebbar sind oder verschwimmen, z.B. in dem nahezu gleichzeitig vollkommen unterschiedliche Impulse ausgedrückt werden (Ich liebe dich! – Komm mir nicht zu nahe!). In der Literatur z.B. beschrieben als: Mystifikation (Laing), bei der ein anderer definiert was sein Gegenüber denke, wolle etc., auch wenn es der Betroffene gar nicht so sieht; als kommunikative „Double-Bind“ Zwickmühle (Bateson) oder als „high expressed emotions“ (Vaughn / Neff) bei dem kritische, entwertende und zugleich sehr emotionale Bewertungen in engen Beziehungen an der Tagesordnung sind. Bei einer Plussymptomatik zeigt der Klient zu viel nicht erwartete Verhaltensweisen, bei einer Minussymptomatik keine oder zu wenige. Beides kann dazu führen, dass seinen Verhaltensweisen, von anderen, kein verstehbarer Sinn mehr zugesprochen wird, der Klient quasi aus der regulären (sinnvollen) Kommunikation ausgestoßen wird (Exkommunikation). Eine systemische Entstörung beinhaltet eine Wiedereinführung des Exkommunizierten, in dem mit dem Klienten normal und vernünftig gesprochen wird, immer annehmend, dass dieser gute und verständliche Gründe habe, sich aktuell unverständlich zu äußern und zu Verhalten, auch wenn diese von der sozialen Umwelt derzeit noch nicht verstanden werden. Die Absicht wird wertgeschätzt, auch wenn der Inhalt nicht verstehbar scheint. Auch ver-rücktes Reden wird als Kompetenz angesehen. Ein wesentliches Element ist die Psychoedukation. Ein rigides Krankheitskonzept der F2 soll aufgeweicht oder aufgelöst werden. Den Beteiligten sollten Chronifizierungsstrategien verdeutlicht werden, d.h. wie bislang und künftig alle Beteiligten zur Chronifizierung beitragen (Harmonie in der Familie auf Kosten einer Chronifizierung), welche guten Gründe es für eine Chronifizierung und welche Ausstiegsmöglichkeiten es aus einem Chronifizierungsprozess gibt (Pro und Kontra). System (Familien)-Mitgleider werden befragt, was sie tun müssten, damit ein symptomatisch-schizophrenes Verhalten wieder auftritt (Vorwegnahme des Vermeidbaren). Die Exploration und Markierung von Unterschieden während und zwischen Rückfällen soll die Wahrnehmung von Veränderungen ermöglichen (die in der Regel ausgeblendet werden). Das beinhaltet die Exploration von negativen Konsequenzen ausbleibender Rückfälle.

F3 Affektive Störungen / F32 depressive Episoden

Eine negative Sicht der Welt, der eigenen Person und der Zukunft (kognitive Triade) ist ein typisches dysfunktionales kognitives Schema (Beck). Aus ungeprüften Ableitungen früherer Erfahrungen (unterstützend sind hohe Ansprüche an sich und die Welt und idealisierte Grundüberzeugungen) wird ‚Hilflosigkeit gelernt‚ (Seligmann). Der Klient macht sich durch solche Selbstsuggestionen (Schmidt) quasi selber depressiv. Die Erfahrungen des immer wieder verlorenen inneren Kampfes verstärken Hoffnungslosigkeit und Selbstabwertung (Teufelskreis). In Beziehungen kann depressives Verhalten systemerhaltend wirken (den Partner binden), eine Aufforderung zum Engagement des Partners sein, oder eine Bindung (Loyalität) an Vergangenes symbolisieren (Schicksale, Erinnerung an Verstorbene etc.). Kollektive, im sozialen System gemeinsam geteilte, Ideen von ‚Man muss immer alles richtig machen‘, erhöhen den Druck.

Eine Entstörung beinhaltet die ressourcenorientierte Suche nach Hypothesen zu ‚den guten Gründen‘ (wofür ist das depressive Verhalten ein Lösungsversuch). Die Beziehungsgestaltung erfolgt angekoppelt an Tempo, Energieniveau und Stimmung. Die Depression kann als ‚Besucher‘ externalisiert werden (White / Epston). Verschiedene intrapsychische Persönlichkeitsanteile, die miteinander in Konflikt sind, können mit dem IFS Modell (Internal Family System, Schwarz) oder der inneren Familienkonferenz (Schmidt) in Einklang gebracht werden. Bei resignierten Klienten können Verschlimmerungsfragen hilfreicher als Lösungsfragen (z.B. die Wunderfrage) sein.

F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

Angst und Panikstörungen wurden häufiger bei Erleben eines geringen familiären Zusammenhaltes und chronischen Konflikten zwischen den Eltern beobachtet. Ebenfalls bei frühen oder dramatischen Verlusten im eigenen Leben und bei Situationen, die ein frühes Erwachsenwerden erforderlich machten (häufig mit Überforderung). Panikattacken können das Resultat einer symmetrischen Eskalation zwischen Wut auf den Partner und Angst vor den Konsequenzen dieser Wut sein. Die Eskalation der Wut wird durch die Panikattacke gestoppt und die Aggression und Wut wird dissoziiert. Die Fehlinterpretation von Wut als Angst kann so zur Vermeidung von Konflikten beitragen. Angstsymptomatiken können ein Mittel der Nähe-Distanz Regulierung sein. Bei einer Entstörung kann zunächst die Symptomatik im Vordergrund stehen. Es geht aber auch darum herauszufinden, womit der Klient sich beschäftigen würde, wenn die Erkrankung nicht mehr da wäre. Vermeidungsverhalten und negative Befürchtungen (Defizitchor) können zu einer Art ‚Reformstau‘ in der Bewältigung von Konflikten geführt haben. Es gilt die Klienten bei der Erarbeitung von Lösungen zu unterstützen und ihnen ein geeignetes Erklärungsmodell (z.B. Teufelskreise der Angst; Redewendungen bei Zusammenhängen von Angst und körperlichen Veränderungen; erstmalige Bobachtung der Angst und konstruierte Bezeichnung; Reaktion und Umgang der anderen) zur Verfügung zu stellen. Oft liegt bei Angststörungen eine einseitige Orientierung auf die Zukunft vor (wie in der Zeit eingefroren; Nichts-Neues Syndrom), die sich in sich selbst verewigenden Erzählformen zeigt. Es gilt dann, die verdichtete Situation zu verflüssigen, indem ein Nacheinander / Danach eingeführt wird. In einer Art Desensibilisierung können Schritt für Schritt das Danach der katastrophalen Vorstellungen durchgespielt werden. Die Wunderfrage kann einsetzt werden, um ein Leben ohne Angst im Detail auszumalen. Partner und andere Systemmitglieder sollten zumindest über zirkuläre Fragen einbezogen werden. Skalenfragen können helfen die Angst sprachlich zu kontextualisieren. Unterschiedsfragen können positiv sensibilisieren für Ereignisse, die von den bisherigen Erwartungshaltungen abweichen. Zur Auflösung der Problemtrance kann durch Humor und Provokation eine Dekonstruktion der Wirklichkeitslandschaft erfolgen. Ebenfalls können Ängste externalisiert (White / Epston) oder mit dem IFS Modell (Schwarz) gearbeitet werden.

Zwänge sind eine Pseudokompensation und dienen dem Schutz vor negativer Befindlichkeit. Sie können die Beziehung regulieren (zu sich selbst bei Defiziten des Selbstwertgefühls oder anderen nahen Bezugspersonen). So lassen sich 75% der Eltern in die Zwangsrituale ihrer Kinder mit hineinziehen. Oft wird der Partner eng in die Störung mit einbezogen. Die Störung kann dabei auch ein Ersatz für etwas Drittes (z.B. Kinder oder gemeinsame Projekte) werden. Die Paardynamik kann ggfs. mit der Rolle der Flasche eines Alkoholikers verglichen werden. Zwangsstörungen führen auch zu Kommunikationsstörungen, die wiederum zu Zwängen oder ihrer Aufrechterhaltung beitragen können. Zur Unterstützung einer Entstörung von Zwängen können ebenfalls Rituale eingesetzt werden (eine ‚mehr desselben‘ Intervention passt aber nicht bei allen Klienten). Ein Ritual allein löst die Zwangsstörung nicht auf, kann aber, wie eine Musterunterbrechung (z.B. Unterlassungsintervention), kreativen Raum für Neues öffnen, welches oft Unsicherheit und Ungewissheit bei allen Beteiligten hervorruft (inkl. Therapeut).

Bei Belastungsstörungen (z.B. PBTS) ist es aus systemischer Sicht weniger wichtig was das Problem ist, sondern wer es definiert, welche sozialen Prozesse beteiligt sind und was dann als Problem benannt wird (‚Betonierung der Opferrolle‚). Zusätzlich gilt es eine Vielzahl von Methoden zu kombinieren (z.B EMDR, Kunsttherapie, Soziogramm, Psychodrama, Psychopharmakologie).

Der Körper wird bei somatoformen Störungen in die Erfahrung und Erzeugung von Wirklichkeiten einbezogen. Krankheit an kritischen Punkten eines Familienzyklus kann dafür sorgen, dass sich Dinge nicht zu schnell verändern, weil zunächst Fürsorge und Rücksicht gefragt sind. Eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Befindlichkeiten kann von einer Ignoranz gegenüber emotionalen Befindlichkeiten ablenken. Insbesondere somatoforme Schmerzstörungen können mangelnde Fähigkeiten zur Modellierung der eigenen Emotionen (z.B. bei Gewalt oder sexuellem Missbrauch) kompensieren. Somatisierende Angehörige haben oft wenig oder keine Sprache für emotionale Erfahren entwickelt. Wenn zwei Partner gemeinsam somatisieren, schenkt ihnen das eine gemeinsame Sprache für alles Unbehagliche. Systemisch ist die Ursachenattributierung innerhalb des Systems (Familie) sehr bedeutsam. Bei einer Entstörung geht es zunächst darum behutsam eine neue Sprache einzuführen und die Symptome als zunächst sinnhafte Konstruktion anzuerkennen. Dabei können neurobiologische Modelle hilfreich für die Akzeptanz einer neuen Sprache sein. Es gilt alle Personen, die eine bedeutsame Perspektive auf das Geschehen haben, zu verbinden und alle Symptome als bio-psycho-sozial zu verstehen.

F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren / F50 Essstörungen

Aus systemischer Sicht ist es wichtig, dass es keine einheitliche Ursache von Anorexie gibt. Familien mit anorektischen Mitgliedern sind deswegen weder automatisch dysfunktional, noch Schuld. Die Störung setzt allerdings (spätestens bei Lebensbedrohlichkeit) alle Familienmitglieder unter eine hohe emotionale Anspannung. Es kann innerhalb der Familie Muster geben, die eine Somatisierung fördern, z.B. Verstrickungen (interpersonale Grenzen oder Grenzen von Familiensubsystemen sind unklar oder gehen verloren), Überfürsorglichkeit, Starrheit, Konfliktvermeidung, Konflikt-Umleitung (die Symptomatik des Kindes als Beziehungsregulator der Eltern). In Familien, in denen sich ein Mitglied bulimisch verhält, kann man oft eine lustvollere Norm und Lebensweise vorfinden, wobei aber an der Lust ein Haken ist, der das Genießen nur im Kombipack mit Selbstquälungen erlaubt. Die Impulshandlung des Erbrechens ist ein Bewältigungsversuch des ungeschehen machen. Es beseitigt in autonomer Weise unangenehme Spannungen und verbrigt Mangelhaftes und vermeidet Konflikte mit anderen Familienangehörigen. In einer Entstörungsbegleitung wird zwischen einer Stabilisierungs-, Konfliktbearbeitungs-, und Reifungs-Phase unterschieden.

F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen / F60.3 Emotional instabile Persönlichkeitsstörung insbesondere F60.31 Borderline-Typ

Menschen mit Borderline-Störung werden oft so beschrieben, dass sie sich als tief entfremdet von ihrer Familie wahrnehmen und empfinden. Eine respektvolle Exploration der familiären Beziehungsmuster kann deswegen eine hilfreiche Intervention sein. In der Literatur werden zwei Familientypen beschrieben: die vernachlässigende, emotional missbrauchende Familie und die chaotisch-instabile Familie mit ständigen Krisen. Die Borderline-Störung ist eine besondere Form der Organisation von Ambivalenz. Eine ressourcenorientierte Sicht ist, dass Klienten vielfältige Möglichkeiten der Nähe-Distanz Regulierung haben; nach dem Motto leben ‚Das Konstante ist der Wandel‘; entgegengesetzte Bedürfnisse ausleben; auf der kognitiven und emotionalen Ebene die Fähigkeit haben schnell zu alternieren; sich abgrenzen, Grenzen öffnen und Grenzen überschreiten; zu testen ‚Wer hält mich aus, so wechselnd, wie ich bin?‘. Die Leitfrage des therapeutischen Arbeitens ist ‚Wie würde man mit dem Klienten arbeiten, wenn es die Diagnose nicht gebe?‘ (Weglassen der Stigmatisierung). Symptome werden weniger als Defizit und mehr als kreative Lösung betrachtet. Es wird mehr mit dem Klienten erörtert (als Experte für sein System) und weniger trainiert. Der Therapeut nimmt eine neutrale Position und Funktion ein, was auch dabei hilft sich nicht in die Inszenierung des Klienten verstricken zu lassen. Eine tragende Supervisionsgruppe (insbesondere bei eingesetzten Suiziddrohungen) kann sehr hilfreich sein. Mit positiver Konnotation und Humor können sich Interventionen zunächst auf das beobachtbare Verhalten konzentrieren und erst später eine umdeutende Kontextualisierung und die Entwicklung weniger schmerzhafter Verhaltensalternativen.