Als ich Michael Müller auf einer Coaching Konferenz kennen lernte, war ich von seiner vorgestellten Methode, narrativen Interviews in Unternehmen einzusetzen, fasziniert. Zum einen liefert eine Analyse ein Bild der zur Zeit gelebten Unternehmenskultur und zum anderen lassen sich fundierte Empfehlungen darüber abgeben, wie eine Unternehmenskultur tatsächlich verändert werden kann: welche Geschichten erzählt werden müssten, um die Vorstellung des Unternehmens im Kopf nachhaltig verändern zu können. Details finden Sie in dem Buch ‚Einführung in narrative Methoden der Organisationsberatung‘ von Michael Müller.

Der nachfolgende Text ist eine kurze (ausschnittsweise) Zusammenfassung der Grundlagen, erklärt in dem Buch ‚Narrative Medienforschung von Michael Müller, Petra Grimm‘.

Der Begriff des narrativen Interviews wurde Mitte der 70er von dem Soziologen Fritz Schütze geprägt. Erzählen ist immer ein Prozess der Konstruktion zum Zeitpunkt des Erzählens. Deswegen wird auch die vergangene Geschichte eines Unternehmens immer unterschiedlich erzählt, ja völlig anders strukturiert. Narrative Interviews sind nicht geeignet verlässliche Informationen darüber zu erhalten, was damals geschehen ist, sondern liefern Daten darüber, wie Erzähler die Vergangenheit jetzt konstruieren um ihrer Gegenwart einen Sinn zu geben; wie die Erzähler sich selbst erklären wie etwas (oder sie selbst) so geworden sind, wie sie heute sind. Es geht um das Unternehmen im Kopf. Es geht um die gebildeten Landkarten und Modelle der erzählten Welt, deren Transformationen, Grenzüberschreitungen und die Art und Weise wie erzählt wird. Erzählung in Unternehmen sind dabei weniger stark durch den Einzelnen als durch das System im Unternehmen geprägt.

Ablauf narrativer Interviews

Narrativ sind Interviews, wenn nicht nach Sachverhalten, sondern nach Erlebnissen, Erfahrungen und Abläufen gefragt wird und dabei nur Erzählimpulse gegeben werden. Erzählungen von Erlebnissen auf allgemeine Fragen sind in der Regel nicht willkürlich, sondern haben für den Erzähler eine besondere Bedeutung. Auch erhält man durch offene, allgemeine Fragen Hinweise zu neuen, nicht erwarteten Themenbereichen. Im Vorfeld werden Teilnehmer nicht weiter informiert, denn das würde zu großen Druck ausüben. Ein idealtypischer Ablauf eins narrativen Interviews startet mit biografischen Fragen (Wann sind sie zum ersten Mal .. Wie ist es weiter gegangen. Wie ist die Idee… entstanden. Wie kam es dazu, dass ..), geht über allgemeine episodische Fragen (Wie läuft ein typischer.. ab?, Erzählen Sie doch einmal von einem typischen.. Wenn Sie.., wie läuft das ab?) und endet mit spezifischen episodischen Fragen (Gestern.., wie lief das ab?, Wann waren Sie das erste/letzte mal.. erzählen Sie doch einmal wie das ablief/was passiert ist.). Dabei kann es sinnvoll sein, Fragen zirkulär zu stellen, wenn man Informationen über gegenseitige Einschätzungen und Vermutungen über Verhalten von Personen offensichtlich machen möchte. Narrative Interviews haben auch immer einen aufdeckenden Charakter.

Auswertung narrativer Interviews

In der Auswertung von Einzelinterviews auf Basis der Interview-Transkriptionen schaut man nach diesen Fragen: Welche (teil)biografischen Erzählungen kommen vor? Welche Klassifikation von Narrationen (Ausgangszustand, Ereignis, Endzustand) gibt es? Was sind die Zeitstrukturen, was die eingenommenen Perspektiven? (Point of Views: ist die Erzählebene innerhalb oder außerhalb der dargestellten Welt? Welche subjektive/nicht-subjektive Perspektive wird eingenommen? Werden die Erzählebene und Perspektiven gewechselt? Welche Perspektiven sind dominant?) Was sind die verwendeten Klassen von Personen und Figuren? Wiederholen sich Narrationen? Welche Typen von semantischen Räumen oder Grenzüberschreitungen gibt es?

Anschließend erfolgt die Ableitung von Folgerungen (z.B. für die einzelnen relevanten Wert- und Denksysteme) und die Zusammenfassung der Befunde aus den Einzelinterview-Stichproben.

Grundlagen-Begriffe

Beim Point of View geht es darum, wer informiert und wer nimmt etwas wahr. Das betrifft das Verhältnis von Erzähler und Figuren und damit die Erzählebene. In einer Figurenanalyse wird ermittelt, welche Aktanten repräsentiert werden und von welcher Figur welche Aktanten-Funktion erfüllt wird. Auch wenn zu erwartende Funktionen nicht erfüllt werden, oder zu erwartende Figuren nicht repräsentiert werden, ist das interessant.

Semiotik (vom griechischem Wort ‚sēmeĩon‘‚ für Zeichen) ist eine wissenschaftliche Grundlagentherorie, die sich auf Basis eines Zeichenbegriffs mit dem Funktionieren von Kommunikation beschäftigt. Soweit sich die Semantik (Bedeutungslehre von Zeichen) mit Zeichen aller Art befasst, ist sie ein Teilbereich der Semiotik.

Sogenannte semantischen Räume sind eine Menge von Objekten und Merkmalen, die untereinander korreliert sind. Es gibt konkrete Räume mit bestimmten Bedeutungsmerkmalen und abstrakte Räume, die nicht an Orten gebunden sind.

Eine Geschichte basiert auf einer statischen semantischen Raumstruktur mit einer Grenze und einer Handlung, die eine Dynamik verursacht. Es ist immer erst zu klären, ob eine Geschichte narrativ ist, d.h. die Minimalanforderungen erfüllt: es müssen verschiedene Zeitpunkte erzählt werden, es muss eine Situationsveränderung einer Bezugsgröße erzählt werden, und sich die Bezugsgröße nicht während der Transformation verändern, es muss mindestens eine alternative Möglichkeit bestehen und das Geschehen muss von der Normalität, d.h. von dem was zu erwarten gewesen wäre, abweichen.

Handlungsträger von vielen Geschichten ist der ‚Held‘, der die semantische Raumstruktur überwindet. Der Held bildet mit den Aktanten ein Beziehungsgefüge: Wunschobjekt, Helfer, Gegner, Auftraggeber und Nutznießer. Mehrere Aktanten können durch eine Figur besetzt sein, oder durch mehrere Figuren oder Aktanten können gar nicht repräsentiert werden.

Erzählungen finden immer vor dem Hintergrund eines kontextuellen Systems statt, das sind die externen Daten, auf die eine Erzählung explizit oder implizit verweist.

Bei der Analyse von semantischen Räumen ist zu klären, welche Räume in Opposition zu einander stehen. Es ist hilfreich diese Räume grafisch darzustellen.

Ereignisse können in einer Hierarchie eingeordnet werden. Je höher, je bedeutsamer: Raumtilgung geht vor Grenztilgung, vor Grenzverschiebung und diese vor Grenzüberschreitung. Bei einer Grenzverschiebung bewegt sich die Grenze selbst durch Expansion oder Kontraktion der semantischen Räume. Eine Raumtilgung ändert die dargestellte Welt fundamental. Bei einer Grenztilgung gibt es keine Opposition mehr zwischen den verschiedenen semantischen Räumen.