Wir Menschen wollen und müssen wachsen. Über uns hinauswachsen, uns entwickeln. In der Kindheitsphase ist das offensichtlich, doch es hört unser ganzes Leben nicht auf. Unser Leben hat etwas prinzipiell Vorläufiges und Unvollendetes. Wir sind “geworfen” (in-die-Welt-geworfen) und uns selbst verantwortet (Sartre). Einige unserer Verhaltensweisen begünstigen ein solches Wachstum, andere behindern es. Wenn wir ‚festhängen’, schaffen wir es, uns in Sackgassen zu verrennen und uns selbst zu quälen (Neurosen). Unser Wachstum verläuft in typischen Phasen, deren Durchlaufen, so unangenehm es sein mag, dazu gehört. Darum wird es in diesem Artikel gehen.

Unser Denken ist stark polar geprägt. Sobald wir mit einem Begriff etwas beschreiben, müssen wir schon sein Gegenteil ebenfalls definieren. Geist und Leib (Psyche und Soma), Gut und Böse, krank und gesund, Licht und Dunkel, rechts und links, oben und unten; alles wird gespalten und zweigeteilt. Vielleicht ist das so, weil wir in unserer körperlichen Anlage ebenfalls symmetrisch / zweigeteilt sind und wir hätten eine andere Denkstruktur, wenn unsere Symmetrie eine andere wäre, mit 3 Armen zum Beispiel. Wir nehmen diese Polarität als völlig normal hin und hinterfragen sie nicht. Dabei sind diese Dimensionen immer unsere eigenen Festlegungen, Dogmen, Bewertungen; also nur unserer eigenes geschaffenes Abbild einer Realität, die durchaus andere Dimensionen und unendlich viele Zwischenstufen kennt, die wir aber in unserem Denkmuster ausblenden, weil wir unsere Aufmerksamkeit durch eine duale Brille zwängen.

Unglücklicherweise entscheiden wir uns oft dafür auf nur einer polaren Seite stehen zu wollen und die andere Seite in unseren Schatten zu verdrängen. Zwischenstufen und ein – sowohl als auch – werden der Einfachheit halber ganz ausgeblendet. Wir wollen zum Beispiel immer nur gut, erfolgreich und gesund sein und tendieren damit zu einem polaren Extrem. Ein gutes Rezept um sich früher oder später selbst unglücklich zu machen. Unsere Erwartungshaltung wird extrem, unser Denken starr und vergleichend. Wir vergleichen uns und Andere mit unserer einseitigen Erwartungshaltung und wollen uns oder Andere ändern, damit sie zu unserem Wunschbild passen. Wir versuchen oft jemand zu sein, der wir nicht sind, um unseren eigenen, extremen Erwartungshaltungen besser zu entsprechen.

In der Kommunikation mit uns und Anderen sind wir nicht bei uns und alles andere als gewaltfrei. Man kann auch sagen, dass wir unserer eigenen Erfahrung von Wirklichkeit, Gewalt antun. Wir “müssen” eine Menge und orientieren uns damit wieder vergleichend an einem Wunschbild. Damit sind wir weder bei uns, noch bei anderen Menschen, d.h. wir können nicht wirklich in Kontakt gehen. Wir sind nur an der Grenze von Dingen und Menschen in Kontakt, in Berührung, weil wir nur auf der Grenze von Innen und Außen (Gestalt) etwas gemeinsam haben. Nur auf der Grenze leben wir wirklich.

Wir schaffen auch eine fatale Polarität in der Zeit. Entweder ist etwas Vergangenheit, oder eine Vorstellung in der Zukunft. Das Jetzt verschwindet zu einem winzigen, infinitesimalen Moment dazwischen. Die Gegenwart verliert an Bedeutung, sie schrumpft gleichsam. Sie wird reduziert auf einen bloßen Umschlagpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft; hat keinen eigenen Raum, keine Dauer, keine Stabilität mehr (Luhmann).

Dabei, wenn etwas nicht stimmt, auch wenn es schon lange so geht, brauchen wir nicht in der fernen Vergangenheit nach Ursachen und Verantwortungen zu suchen, sondern es ist Jetzt Teil von mir und ich kann hinsehen, was es Jetzt mit mir machtWarum und Weil sind Schutzworte, die eine Übernahme unserer eigenen Verantwortung nur verhindern. Wenn wir stattdessen nach dem Wie fragen, wie es Jetzt ist, werden wir uns bewusst, was wir tun und können beginnen Verantwortung für unsere Weiter-Entwicklung zu übernehmen.

Wir verhalten uns als ob es die körperliche Erlebniswelt und die Ebene des Intellektes gibt. Die Ebene auf der wir, allein mit uns, ungestört grübeln und uns im Kreis drehen können, uns Katastrophen vorstellen können, uns selbst verletzten und jammern dürfen. Zerrissen in unserer Vorstellung, als ob wir nicht eine Einheit von Körper und Geist wären. Fast immer lässt uns unser Organismus wissen, was wichtig ist, doch wir sind routiniert darin, seine Signale zu unterdrücken, auszublenden und zu zensieren. Jedenfalls bis der Körper doch noch eine andere Art findet sich auszudrücken, durch Krankheit oder psychosomatische Symptome, die uns dann ganz plötzlich überfallen und die wir nur einfach weg haben wollen um mit unseren alten Mustern ungestört weiter machen zu können. Nur keine Entwicklung bitte. Lasst mich in meiner Komfortzone aus alten Mustern, denn die sind zumindest gewohnt und geben Sicherheit.

In diesem Verhalten schaffen wir es uns auf verschiedene Arten unser Leben schmerzhaft und mühsam zu machen. Einige davon sind diese Strategien (es gibt viele mehr..):

Wir schaffen uns einen Berg unerledigter Dinge, den wir so lange aufhäufen, bis es wirklich nicht mehr geht und alles zusammenbricht oder wir krank werden, was dann, bei so einem Berg ja wirklich einmal sein darf.

Wir sind unentschlossen, immer hin- und hergerissen, können uns nicht entscheiden, wissen nicht was wir eigentlich wollen. Unser Rhythmus stimmt nicht mehr, wir atmen nicht mehr richtig ein oder aus; können nicht mehr richtig schlafen oder werden nicht mehr richtig wach.

Wir schwanken zwischen zwei Extremen, die beide nicht möglich sind, tun so als gäbe es keine andere Wahl mehr und diese vermeintliche Sackgasse treibt uns fast in Wahnsinn.

Wir schaffen keine klare Grenzlinie zwischen uns und der Welt, können kein Gleichgewicht zwischen unseren eigenen Bedürfnissen und den Forderungen von außen finden.

Wir schlucken alles nur noch herunter (Introjektion), tun so als seien keine Konflikte da, stimmen jedem zu und brauchen uns damit auf nicht mehr verteidigen. Brauchen wir auch nicht mehr, da es uns selbst kaum noch gibt, denn wir haben bei dem ganzen Lagerhaus von verschluckten Urteilen, Ideen und Normen Anderer auch keinen Platz mehr für uns selbst.

Wir verschieben die Grenze zwischen uns und Anderen, in dem wir projizieren, regen uns über Eigenschaften, die wir an uns nicht mögen bei anderen auf (Schatten) jubeln Qualitäten Anderer hoch zu Idealbildern unserer Wunschvorstellungen. Wir sind immer Opfer der Umstände und verleugnen unser eigenes Tun, unsere Verantwortung. Anstatt zu sagen “Mir fällt es schwer mich anzunehmen wie ich bin.” sind es die Anderen, auf die ich das Positive und das Negative projiziere.

Wir verkriechen uns in uns selbst (Retroreflektion), ziehen zwar eine Grenze, aber leider nur durch das eigene Ich, was uns in der Teilung nicht weniger einsam macht. Wir halten uns selbst zurück, beißen die Zähne zusammen, pressen die Lippen fest auf einander, halten die Arme steif, runzeln die Stirn, halten den Kopf steif zwischen den Schultern, kauen an den Nägeln usw. Das alles kostet Energie, die wir nach außen nicht mehr haben.

Wir fließen mit der Umgebung zusammen (Konfluenz) und wissen nicht mehr wo unsere eigenen Grenzen verlaufen, aber wir gehören dazu und fühlen uns angenommen. Unterschiede werden nicht geduldet, Andersdenkenden sind wir unversöhnlich gegenüber und wir können zu den bekehrtesten (furchterregendsten) Mitgliedern einer Gemeinschaft werden (Kirche, Bewegung, Club u.a.). Der eigene Wert liegt nicht mehr bei einem selbst, sondern nur noch in der Bewegung / Gruppe. Was erwarten die anderen von mir, ist die wichtigste Frage. Wir bezahlen mit unserem Leben um dazu zu gehören.

All diese Strategien behindern unser freies Wachstum. Wir sind im Kern zur Freiheit verurteilt, weil wir nicht anders sein können, als ein Entwurf von uns selbst (Sartre). Übernehmen wir die Verantwortung für unsere Freiheit nicht, dann klären unsere Grenzen (unseren Entwurf von uns selbst / unsere Gestalt) nicht, sind nicht im Hier und Jetzt und nicht wirklich im Kontakt. Die drei typischen Wachstumsbremsen der Menschen sind Faulheit, Feigheit und Fixierung (Höfner). Unser Wachstum vollzieht sich in fünf Phasen oder Schichten (de Roeck nach Perls).

  1. Die Klischee-Phase: Wir leben nach vorgegebenen Mustern und Regeln. Das Verhalten ist vorhersagbar wie der Tod. Alles ist so, wie es sich gehört, aber wir haben kein echtes Engagement, kein Vertrauen, kein Risiko. Ein “Verfallensein” an ein anonymes “Man” (Heidegger)
  2. Die Als-Ob-Phase: Wir inszenieren uns, spielen Spielchen, betrügen uns in dem wir etwas darstellen, was wir nicht sind z.B. in dem wir immer lächeln (das Mona-Lisa Spiel); so tun als ob wir nicht verstehen, wenn uns etwas triff (der Naive); geben uns übertrieben bedauernswert (das Mitleid Spiel); erpressen andere (“Du bist der Einzige..”, “Wenn Du nicht..”); sagen “Du bist genauso wie..” (das Übertragungsspiel) “Du hast es leichter..” (Vergleichsspiel); “Warum bist du nicht..” (Vorwurfspiel). Wir spielen Theater (Goffman), haben zwar die Sicherheit der Rolle, aber bringen uns um die Chance zu echten Beziehungen.
  3. Die Ausweglosigkeits-Phase: So bald wir aus unseren Rollen herausgehen, die Scheinsicherheit verlassen, befinden wir uns in einer Sackgasse, eine angstvolle, dunkle Leere (Depression).
  4. Die Implosive-Phase: Die letzten Gegenkräfte einer Weiter-Entwicklung mobilisieren sich. Es fühlt sich an wie ein Stück zu sterben. Wir ziehen uns krampfhaft zusammen und versuchen doch noch etwas Kontrolle zu haben. Dennoch lohnt es sich loszulassen und dies auszuhalten – sterben um zu leben.
  5. Die Explosive-Phase: Wie neu geboren brechen echte Gefühle einer authentischen Persönlichkeit hervor. Es wird viel neue Energie frei. Neue Möglichkeiten und neue Fähigkeiten entdeckt.

Ich habe mehrere dieser Entwicklungsphasen vollständig durchlaufen. Einen Zyklus vom Beginn meiner Schulzeit bis zur Explosions-Phase nach der Schule. Dann einen neuen Zyklus über das erste Studium hinweg bis zur ersten Hälfte meiner Berufstätigkeit und einen zweiten Zyklus danach. Dass viele Wechsel mit Phasen meiner beruflichen Veränderung zusammenfallen, zeigt, wie stark ich mich auf den Beruf fixierte und meinen Wert darüber definierte. Die letzte Phase der Ausweglosigkeit und Implosion war mit einer schweren Depression heftig, aber seit einer ganzen Weile bin ich in einer neuen explosiven Phase und entdecke immer mehr. Auch wenn es mir schwer fällt es zu akzeptieren, gehören auch die dunklen Phasen zum Leben, zum Lebens- und Wachstumszyklus, dazu.