Der nachfolgende Artikel resultiert aus meiner Auseinandersetzung mit Sartre, Das Sein und das Nichts. Ich möchte diesen als eigenständigen Artikel belassen, damit ich mich darauf in nachfolgenden Artikeln beziehen kann. Als einer der ersten Philosophen überhaupt erforschte Sartre die Struktur der zwischenmenschlichen Beziehungen.

Der Mensch (und auch unsere Klienten) stellt sich die Frage nach dem Sein. Der Existentialismus weißt dem Sein eine herausragende Rolle zu (gleichwohl wird der Sein-Begriff in der modernen analytischen Philosophie als sinnlos kritisiert). Sartre übernimmt Heideggers Konzeption, dass das Sein des Menschen, Dasein genannt, als ein “In-der-Welt-sein”, jedoch ist das Bewusstsein für ihn von zentraler Bedeutung. “In-der-Welt-sein” ist ein “Bewusstsein-davon-zu-haben, in-der-Welt-zu-sein”. Überhaupt übernimmt Sartre viel von Heidegger, was ihm auch den Vorwurf einbrachte, von Heideggers Hauptwerk “Sein und Zeit” abgeschrieben zu haben.

Weder Erbanlagen, noch die Umwelt, noch frühkindliche Erfahrungen bestimmen vollständig die Individualität, sondern des Menschen Autonomie des freien Entwurfes. Der Entwurf ist veränderlich. Die Stellung des Menschen in der Welt ist so, dass er selbst die Wahl treffen muss und deswegen diese Wahl widerrufen kann. Wenn die Wahl bewusst ist, so bedeutet das keineswegs, dass sie auch erkannt ist. Sartre unterscheidet zwei Grade des Bewusstseins: das präreflexive (das weder das Unbewusste im Sinne Freuds ist, noch die bewusste Erkenntnis im Sinne Descartes) und das reflexive Bewusstsein. Das präreflexive Bewusstsein kann am besten mit dem Wort Erlebnis beschrieben werden. Wille taucht erst auf der Ebene des reflexiven Bewusstseins auf. In der Einheit des Bewusstseins ist also eine fundamentale Differenzierung vorzunehmen: das Bewusstsein als Erlebnis und das Bewusstsein als Erkenntnis. Es ist ein Kennzeichen des Erlebnisses, unreflektiert zu sein. Das präreflexive Bewusstsein ist folgendermaßen gekennzeichnet: Es ist ein direktes, bedeutungsvolles und gestimmtes Bewusstsein von den Dingen und ein Bewusstsein (von) sich selbst in der Einheit eines Bewusstseins.

Nach Sartre sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine untrennbare Einheit und nicht wie in der Physik einfach eine Abfolge von Zeitpunkten mit Kausalbeziehungen. Besonders die Zukunft, auf die hin sich der Mensch entwirft. Der Mensch ist, ohne eine vorgegebene Antwort auf das Woher, Wohin oder Wozu zu haben. Er ist “geworfen” und sich selbst verantwortet. Die Zukunft ist kein bloßes Noch-nicht-sein, sondern der Mensch ist dieses Noch-nicht-sein. Unser Leben hat etwas prinzipiell Vorläufiges und Unvollendetes. In jeder Sekunde planen wir uns neu und bestimmen, in welche Richtung wir gehen wollen. Allein der Realismus wäre richtig, wenn es nur die Vergangenheit gäbe, wenn die Welt als reine Faktizität betrachtet werden könnte. Aber das Bewusstsein involviert auch die Zukunft, den Entwurf von Möglichkeiten und diese Entwürfe transzendieren die Welt. Aus diesem Grunde kann das Bewusstsein nicht als realer Teil der Welt betrachtet werden. Wir sind sogar gegenüber der Vergangenheit frei, denn ihr Sinn kommt ihr aus der Zukunft zu. Auch wenn historische Ereignisse längest vorbei sind, wird die Geschichte ständig neu geschrieben.

Der Umgang des Menschen mit den Dingen seiner Umwelt ist ein verstehender und gestimmter Umgang. Es ist nicht so, dass für den Menschen zuerst ein bloßes Ding vorhanden wäre, sondern das Ding trägt von Anfang an Bedeutungen und ist schon immer in den verstehenden Umgang der Menschen eingegliedert.

Der Mensch ist im Kern seines Seins Freiheit, denn er ist Mangel an Identität. Wegen dieses Mangels muss er seine eigene Identität entwerfen, ohne dass er diesen Entwurf rechtfertigen oder begründen könnte (“Das Leben hat a priori keinen Sinn. Bevor Sie leben, ist das Leben nichts, es ist an Ihnen ihm einen Sinn zu geben.”). Er ist also zur Freiheit verurteilt, weil er nicht anders sein kann, als ein Entwurf von sich selbst zu sein. Der Mensch ist grundlegende Begierde, Gott zu sein (in dem Sinn ein Selbstentwurf in Identität, Reinheit und Permanenz zu sein). An der Quelle des Bewusstseins liegt die Freiheit. Man könnte bis zu einem gewissen Grad sagen, dass die Quelle des Bewusstseins die Freiheit ist. Da wir faktisch frei sind, sind wir auch schuldig. Schuldig nicht in einem moralischen Sinn, aber jedes Ergreifen von Möglichkeiten bedeutet auch den Verzicht auf andere Möglichkeiten. Wir können zwar wählen nicht zu wählen, aber auch damit haben wir eine Wahl getroffen. Da wir zu jedem Zeitpunkt die volle Verantwortung für unsere Ziele haben, haben wir eine Schuld uns selbst gegenüber. Jeder ist für sein Leben, d.h. was er daraus unter den gegebenen Umständen macht, selbst verantwortlich. Ein herausreden auf determinierende Fakten (z.B. Anlagen, Umstände, Milieu, Zufälle) ist reine Unaufrichtigkeit (“mauvaise foi”). Die Freiheit des Menschen ist eine dreifache Verdammnis: 1. werden wir in die Existenz als Freiheit hineingeworfen, 2. müssen wir ständig Möglichkeiten auswählen und 3. sind wir verurteilt für diese Auswahl gerade zu stehen und die Schuld auf uns zu nehmen.

Ein anderer Mensch tritt in mein Zimmer. Ich erlebe, wie dieser Mensch seine Welt organisiert, in dem er mich registriert. Ich erfasse intuitiv, dass der Andere einen Aspekt meines Seins erlebt, der mir entgeht. Er erfasst mein äußeres Sein, das ich nicht erfassen kann. Das ist das “Mitten-in-der-Welt-sein”. Der Andere trägt mein äußeres Sein. Er wird mein “Für-mich-sein” mit gewissen Qualitäten versehen, mich irgendwie objektivieren und mich zu einem “An-sich-sein” erstarren lassen. Ich erlebe den Blick des Anderen. Ich empfinde Unbehagen. Alles in mir sträubt sich gegen seine Zuweisung. Ich bin und will mehr sein. Wenn ich mich erkannt fühle, schäme ich mich. In meiner Scham offenbart sich der Vorgang des Wiedererkennens des eigenen Selbst im Blick des Andren. Meine Beziehung zum anderen ist prekär. Er trägt mein äußeres Sein und er kann mir als Spiegel dienen. Insofern ist er notwendig für meine eigene Identitätsfindung. Das Urteil des Anderen dient mir als Spiegel. Dessen Urteil ist hingegen frei, so dass mein Spiegelbild niemals gesichert ist. So ist meine Lage hinsichtlich des Anderen permanent gefährdet (“Die Hölle, das sind die Anderen”). In anderen Worten, die Menschen sind auf die Liebe, die Meinung und die Reaktionen der anderen Menschen existentiell angewiesen, um überhaupt ein Selbstgefühl oder eine Vorstellung von sich zu bekommen. Wir wollen von anderen zwar anerkannt werden, können uns dieser aber nie sicher sein, da die anderen Menschen prinzipiell frei sind und uns jederzeit ablehnen können. Wir befinden uns in einem ständigen Kampf um Anerkennung. Unsere Identität hängt zutiefst von den Anderen ab.

Das menschliche Sein findet keineswegs mit dem Tod ein Ende. Vielmehr erstarrt mit dem Tode mein Sein zu einem bloßen Sein-für-Andere. Der Andere trägt nun mein Sein als Ganzheit; er kann mich beurteilen und bewerten. Für ihn bin ich ein Objekt mit Identität.

Das “An-sich-sein” steht für die Kategorie der Identität. Das Sein des Subjektes ist im “An-sich-sein” fundiert und nicht umgekehrt. Ich bin intuitiv sicher, dass das Ding ist, unabhängig davon, ob ich es wahrnehme oder nicht. Weil wir eine Intuition von diesem “An-sich-sein” der Dinge haben, ist das “An-sich-sein” des Dinges im Ding-Phänomen stets anwesend. Das “An-sich-sein” ist transphänomenal, obwohl es die stets anwesende Grundlage der Phänomene ist. Das Bewusstsein eines Subjektes würde ins Nichts stürzen, wenn es nicht im “An-sich-sein” der Dinge seine Stütze fände. Das Bewusstsein wäre ohne das Sein der Dinge ohne Stütze im Sein.

Das Nichts ist keineswegs nur ein leerer Begriff, sondern für die Menschen von existentieller Wichtigkeit. Es gibt nichts, dass unsere Freiheit einschränken kann und deshalb gibt es auch nichts, was uns hilft unser Leben zu bewältigen. Am Ende sogar nichts, das uns sagt, warum wir überhaupt Leben sollen. Die Entscheidung für das Leben muss daher immer wieder neu getroffen werden. Das Nichts offenbart sich uns in der Stimmung der Angst. Dabei ist der Begriff der Furcht von dem der Angst zu trennen. Während Furcht sich auf etwas Konkretes bezieht, hat Angst keinen konkreten Gegenstand. Im Kern ist es die Angst, dass der Mensch das Leben nicht mehr bewältigen kann (“Wir sind Angst.”). Im Alltag sind viele Entscheidungen routiniert, so dass wir uns der Dimension des Nichts gar nicht bewusst werden.

Ein faszinierendes Problem ist die Möglichkeit des Menschen sich selbst anzulügen (siehe auch Unsere Lügen – Lehrbeispiele unserer System-Konstruktionen). Die Lüge besteht ja darin, dass der Lügner die Wahrheit kennt und sie dennoch entstellt. Wie kann es dann möglich sein, dass Lügner und Belogener eine Person sind? Phänomene wie “logische Fehlschlüsse” und “Selbsttäuschungen” können nicht einfach deshalb ignoriert werden, wie sie im Sinne der Analytischen Logik unsinnig sind. Menschen leben mit Widersprüchen, wobei die einzelnen Konzepte als auch deren Widersprüchlichkeit durchaus bewusst sind. Dennoch wird der Widerspruch nicht realisiert. Es kommt nicht zu einer Synthese von Widersprüchen im Sinne einer korrekten Koordinierung (Unaufrichtigkeit als eine unkorrekte Koordinierung von Faktizität und Transzendenz).

Überwiegend frei zusammengestellt aus Alfred Dandyk, “Unaufrichtigkeit – Die existentielle Psychoanalyse Sartres im Kontext der Philosophiegeschichte“)