Bei meiner Recherche zum Thema Lügen in einer philosophischen Betrachtung (motiviert durch die Beschäftigung mit Unaufrichtigkeit / Sartre) hatte ich viel weniger Literatur gefunden als erwartet. Ist das Thema Lügen etwas mit dem wir uns nicht gerne auseinandersetzen? Dabei lügen wir doch fast jeden Tag und werden jeden Tag angelogen.

In einer Gesellschaft nimmt das Thema Lügen einen ganz besonderen Platz ein. Eine Gesellschaft in deren Mitglieder nicht Lage wären, wahre von lügnerischen Botschaften zu unterscheiden würde zusammenbrechen. Niemand könnte sich zu irgendeinem Zeitpunkt auf irgendeine Botschaft verlassen ohne unabhängige Bestätigungen (und selbst dann können auch diese falsch sein, wenn wir es nicht selbst beobachtet haben).

Was ist eine Lüge überhaupt? Ist es eine Lüge, wenn wir etwas behaupten was nicht die Wahrheit ist und wir es nicht besser wissen? Unabhängig davon, dass es die eine, letzte Wahrheit gar nicht gibt, sondern wir eher die Wahrheit meinen, die in unserem sozialen System gemäß seinen Regeln als Wahrheitskonstruktion anerkannt wird. Ich meine Lügen in der Definition, dass wir vorsätzlich eine trügerische Botschaft ausdrücken.

Ist eine Lüge oder Täuschung bereits Gewalt? Lügen vergrößern die Macht des Lügners und Schwächen die des Angelogenen. Ferner verschleiern und vertuschen wir die Lüge und trachten danach den Eindruck der Normalität zu erwecken, um unsere Lüge glaubhafter zu machen. Mit denjenigen, die sie täuschen, teilen Lügende den Wunsch, nicht getäuscht zu werden. Sie wurden das Lügen (die Macht) gerne für sich reservieren. Sollten wir aus ethischer Sicht nicht immer die Auswirkungen von Lügen auf alle Betroffenen betrachten? Sollten wir nicht möglichst immer im Vorfeld Nutzen und Schaden öffentlich abwägen?

Lügen ist durch alle Zeiten hinweg gefeiert worden – wenn es “heldenhaft” zur Täuschung von Feinden oder zur Eroberung eingesetzt wurde.

Drei Hauptstrategien das Verbot von Lügen (vgl. Augustinus, Enchiridon) zu umgehen sind 1. die Einstufung als verzeihliche Lügen (vgl. Strukturmuster von Thomas von Aquin), 2. das Abstreiten von Unwahrheiten (nur vom Hörer falsch interpretiert; z.B. auch die sog. Mentalreservation bei der man zwar etwas Irreführendes sagt, aber in Gedanken eine Einschränkung hinzufügt um die Aussage wahr zu machen), und die Behauptung, dass diese Unwahrheiten als Lügen eingestuft werden dürfen.

Im Gegensatz dazu gibt es die Extremposition, alle Formen von Lügen zu verbieten (vgl. Kant, Kategorischer Imperativ “Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.”). Doch auch Kant war von seiner Position tief von seinem Glauben beeinflusst, wie die meisten Beweise von Moralisten für eine Rechtmäßigkeit letztlich auf religiösen Überzeugungen beruhen. Letztlich sind zwei Überzeugungen dominant: dass Gott Lügen verbietet und dass er die bestrafen wird, die lügen. Selbstverständlich können diese Glaubenssätze weder bewiesen noch widerlegt werden. Gewissensprobleme können nicht in einem moralischen Vakuum untersucht werden.

Im Utilitarismus verfährt man so, als sei eine Lüge und eine wahrheitsgemäße Aussage, solange sie den gleichen Nutzen erbringt, gleichwertig. Eine solche Risiko-Nutzen Kalkulation wird gerne von denen akzeptiert, die ihre eigenen Interessen begünstigen wollen und die Folgen für andere niedrig einschätzen.

Welche Kategorien von Lügen sind verbreitet? Zunächst einmal die kleinen Alltagslügen, die in dem Sinn harmlos sind, als das niemand verletzt werden soll und die Lüge nur vergleichsweise wenig moralisches Gewicht hat. “Wie nett Sie zu sehen.” “Mit freundlichen Grüßen” etc. – Höflichkeitsfloskeln, die man eigentlich so nicht meint, die aber üblich und akzeptiert sind. Oder man sagt, man könne etwas nicht tun, meint in Wirklichkeit aber man will es nicht tun (man möchte die Gefühle des anderen nicht verletzen). Der Einsatz von Placebos in der Medizin ist eine vermeintlich harmlose Form von Lüge. Etwas zu übertreiben oder abzuschwächen, weil man nicht die Zeit und Lust hat, Details zu diskutieren, ist eine schnelle Gelegenheitslüge. Unangenehme Fakten werden gezuckert, traurige Nachrichten abgemildert oder verschwiegen, täuschende Propaganda und irreführende Werbung in Hülle und Fülle, ein Loblied in einer Empfehlung über einen Kollegen, dem man einen Gefallen tun will, etc. etc.

Gibt es Umstände die das Lügen entschuldigen? Überhaupt scheint das Thema Ent-Schulden im Sinne von, die Schuld einer Lüge abzugeben, ein wichtiges Thema zu sein. Einfach, scheint nur das Thema Lügen zur direkten Selbstverteidigung, als Mittel zum Überleben, zu sein. Was für Entschuldigungen für Lügen gibt es sonst noch? Zunächst kann man die Schuldhaftigkeit grundsätzlich abstreiten, man kann auch die Verantwortung für die Schuld ablehnen, oder man kann gute Gründe anführen, warum man in Wirklichkeit keine Schuld trage. Bei dem letztgenannten Punkt werden häufig die folgenden Strategien verwendet: man wollte Schaden vermeiden, man tue Gutes, es sei nur gerecht oder es sei wahrhaft.

Auch die Berufung auf die Pflicht zur Verschwiegenheit (Pfarrer, Rechtsanwalt, Arzt..) ist eine weiteres Feld von Entschuldigungen. Oder eine Loyalität, die Kollegen Schutz gewährt (Politiker, Ärzte, Polizisten, Anwälte etc.), da man implizit zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Was verleiht solchen Versprechen eine solche Macht? Die Gehorsamkeitsexperimente von Stanley Milgram 1963 in Yale zeigen eine Verpflichtung zu einer vermeintlichen Obrigkeit, die Menschen dazu brachten, anderen (vermeintlich) lebensgefährliche Elektroschocks zu verabreichen. Interessanterweise fachten diese Experimente auch Diskussionen an, ob es richtig sei zum Wohle der Forschung Menschen zu belügen (obgleich Täuschungen in der Medizin eine lange Tradition haben).

Auch die Art der Beziehung zwischen Lügner und Belogenen spielt eine Rolle bei der Entschuldigung von Lügen (Freunde, neutral, Feinde). So sind Lügen bei Feinden leicht entschuldbar (da “exterritorial”, außerhalb des Geltungsbereiches der eigenen Gesellschaft), bei Freunden können sie umso schwerer ins Gewicht fallen.

Die Mächtigen lügen, weil sie glauben, dass sie besser als andere wüssten worum es geht. Ohnehin seien die anderen nur begrenzt (oder gar nicht) urteilsfähig. Öffentliche Amtsträger reagieren dabei gerne ungehalten auf den Versuch, die Ethik solcher Täuschungspraktiken in Frage zu stellen.

Lügen gegenüber Kindern oder anderen Abhängigen, zu deren Wohl sind paternalistische Lügen. Dabei wird gelogen, damit andere sich konform verhalten und ihr Verhalten anpassen. Lügen zum Schutz dieser Bindungen gelten als besonders angemessen und selbstverständlich.

Doch die Angelogenen sind über die “guten Gründe” häufig nicht begeistert. Zum Teil liegt das daran, dass sie keine Möglichkeit haben zu erkennen, ob das, was man ihnen sagt, nun wahr ist oder nicht; zum Teil auch daran, dass sie aus ihrer eigenen Erfahrung als Lügner wissen, wie leicht es ist zu lügen und wie einfach überzeugende Gründe zu finden. Interessant ist auch ein Szenario der gegenseitigen Täuschung, bei der jeder weiß, der der andere lügt, man jedoch vorzieht betrogen zu werden, statt der ungeschminkten Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Z.B. bei Freundschaften oder in der Familie, wo die (Lügen)Form gewahrt wird um Illusionen zu bewahren oder unangenehme Erfahrungen zu unterdrücken. Andere Beispiele sind der Umgang mit chronisch Kranken oder Sterbenden, die wir mit “es wird schon” trösten, oder bei Verhandlungen im Geschäftsleben das Manipulieren von Zahlen. Machiavelli gestattete zum Beispiel auch das Lügen auf Grund von vorgreifenden Überlegungen. Die Voraussage oder Annahme von künftigen Wortbrüchen der anderen ist als Grund bereits hinreichend. Anders als Mark Twain, der empfiehlt “Bist du im Zweifel, dann sagt die Wahrheit. Das wird deine Feinde verwirren und deine Freunde erstaunen.”

Lügen sind wie Wahrheiten sozial konstruierte Phänomene und meines Erachtens ein hervorragendes Lehrstück um die verstecken Regeln in Systemen zu verstehen. Lasst uns mehr auf unsere großen und kleinen Lügen im Leben schauen und auch Klienten nach den Lügen in ihrem Leben fragen. Die Antworten könnten ganz interessante neue Perspektiven zu Tage fördern.

(Inhalt zum Teil zusammengestellt aus “Lying: Moral Choice in Public and Privat Life” von Sissela Bok; siehe auch DVD „Experimenter – Die Stanley Milgram Story“)