Zusammengestellt aus “Luhmann leicht gemacht” von Margot Berghaus.
Soziale Systeme operieren in Form von Kommunikation, sind Kommunikationssysteme. Druckwerke erlauben es, an der gesellschaftlichen Kommutation teilzuhaben, ohne in einer Face-to-Face-Situation interagieren zu müssen. Ein Leser muss nicht handeln; er kann sich ganz darauf konzentrieren, das zu beobachten und zu bewerten, worüber er liest. Der Sender / Schreiber ist weit weg: die Mitteilung emanzipiert sich und der Empfänger emanzipiert sich. Darum kann Kritik ungehinderter und Ablehnung ungenierter erfolgen. Schrift schafft Fakten, die ohne schriftliche Aufzeichnung so nicht existieren würde.
So führte der Buchdruck zu einer Trennung von Handeln (in der Interaktion) und Beobachten (im Lesen) und zu einer Trennung von Interaktion und Gesellschaft. “Autoren” sind nicht länger “Autorität” kraft zentraler Befugnis von Oben oder von Amts wegen, sondern durch Akzeptanz und Wirkung in der Öffentlichkeit. Die traditionellen Kanäle politischen und religiösen Einflusses werden unterlaufen mit der Folge, dass hergebrachte Hierarchien sich abflachen. Es entstehen kritische Öffentlichkeiten, plurale Werte, Individualismus (“Das Problem ist, dass Leser, wenn sie die Bibel lesen können, auch andere Texte lesen können.”). Der Umbruch entsteht eigentlich nicht durch das Drucken, sondern durch das Lesen des Gedruckten. Nicht etwa: Gelesen wird, was gedruckt wird. Sondern: Gedruckt wird, was gelesen zu werden verspricht. Genauer: Gedruckt wird, was sich verkaufen lässt. Das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kommunikation ist zirkulär – auch in den evolutionären Veränderungen.
Die moderne Gesellschaft überlässt ihre “Selbstbeobachtung” und “Selbstbeschreibung” weitgehend dem Massenmediensystem. Die Funktion der Massenmedien besteht darin die “Realität” für die Gesellschaft zu beobachten und zu beschreiben. Die Beobachterhaltung wird zunehmend zu einer charakteristischen Haltung der modernen Gesellschaft. Für Massenmedien gilt: Die Themen, nicht die Meinungen sind entscheidend. Die kognitive Seite ist verbindlich, die Einstellungsseite frei.
Informationen müssen immer anders, besonders, abartig sein. So kommt eine Welt zustande mit der Hauptaussage “Es gibt so viele Defizite. Alles sollte so viel besser sein!”.
Es sind nun die Medien, die der Gesellschaft zeigen, wie die Welt gelesen werden soll; was in der Welt von Bedeutung ist, nämlich das Neue und – welche Moral gilt, also wer “die Guten und wer die Bösen” sind. Öffentliche Meinung kann man auch als das soziale Gedächtnis definieren, das regelt, was im politischen Bereich behalten und was vergessen werden kann. Die Vergangenheit gewinnt an Macht.
Im System der Massenmedien spitzt sich die Zeitorientierung zu. Massenmedien sind ein Durchlauferhitzer für die Zeit. Die Temporalisierung erfasst die Medien und darüber hinaus die ganze Gesellschaft. Die Zeit gewinnt überhaupt nochmals stärker an Wert. Zeit wird zur dominierenden Sinndimension. Die Linearität, die Kausalität, die Ordnung des Denkens werden eingeübt und anerzogen. Heute scheint es uns natürlich, sich die Zeit als Bewegung oder Linie vorzustellen, die aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft führt. Zeit “ist” aber nicht so; sie “ist” auch nicht anders, sondern sie wird von einer Gesellschaft auf eine bestimmte Weise beobachtet, unterschieden. Die Gegenwart verliert an Bedeutung, sie schrumpft gleichsam. Sie wird reduziert auf einen bloßen Umschlagpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft; hat keinen eigenen Raum, keine Dauer, keine Stabilität mehr. Zeit und Dauer im Jetzt bedeutet: Man hat buchstäblich ‚keine Zeit’ mehr. Informationen machen nicht satt, sondern im Gegenteil immer hungriger nach neuen Informationen. Immer mehr und immer schneller wird zum Prinzip.
Wie nie zuvor zieht die Gesellschaft heute einen scharfen Schnitt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit steht für Gewissheit, die Zukunft für Ungewissheit. Das Jetzt ist kurz wie nie, der Gegenwart wird keine Dauer zugebilligt. Alles läuft auf Verunsicherung und Risiko hinaus: die Gesellschaft beschreibt sich als Risikogesellschaft. Zusätzlich verunsichert das Fehlen der einen, letzten Instanz, die man um Rat fragen könnte. Wenn nichts dem Vergessen anheimfällt, weil alles gespeichert und jederzeit wieder aufgerufen werden ist, drängt sich jeder Realität der Vergleich mit unerreichten Möglichkeiten auf – was zu Enttäuschungen und negativen Einstellungen führt.
Wohin geht es mit der Kommunikation? .. Zu mehr Kommunikation in mehr Kommunikationsweisen. Quantitativ ist eine Obergrenze nicht erreicht; es gibt keine Obergrenze. Der Informationsüberflutung folgt die Überflutung der Überflutung. Ohne Informationsgewissheit zu schaffen. Im Gegenteil, desto mehr Ungewissheit. Die alte, bewährte direkte Kommunikation gibt Orientierungshilfe für den Umgang mit der medialen Kommunikation, die evolutionär viel jünger ist.